28. Oktober 2023 – 28. Januar 2024
Ausstellungsort | Westfälischer Kunstverein, Rothenburg 30, 48143 Münster |
Eintritt | 4 € / ermäßigt 2 € / Mitglieder frei |
Fasziniert von mystischen und rituellen Objekten, ihren Funktionen und vermeintlichen Kräften, fühlt sich die Bildhauerin Beth Collar (*1984, Cambridge) zu Formen der religiösen Kunst hingezogen. Gerade das Mittelalter hat wie kaum eine andere Epoche durch bildhauerische Darstellungen kommuniziert, erzogen, bedroht, berührt und gezüchtigt. Es ist dieses Potenzial, extreme Gefühlszustände darzustellen, zum Mit- und Nachfühlen anzuregen, das Beth Collar für ihre eigene künstlerische Praxis inspiriert.
Neben dieser affektiven Wirkmacht von Objekten ist es aber auch das performative Moment deren Herstellung, das Erlernen und Beherrschen einer (immer wieder neuen) Handwerkskunst, die zehrende und langwierige Arbeit, die notwendig ist, bis ein Objekt Form nimmt. Dies lässt sich besonders gut ablesen an der Serie der Spurts, die den großen Ausstellungsraum einfassen. Diese in der Bewegung erstarrten, geronnenen „Spritzer“ schnitzt Collar seit 2021 in aufwendiger Handarbeit aus Lindenholz, einem Material, das v.a. im nordeuropäischen Raum zur Herstellung kirchlicher Kunstobjekte diente.
Formal bezieht sie sich auf ein Crucifixus dolorosus des 14.Jh. aus Breslau, das heute im Nationalmuseum in Warschau zu sehen ist. Dieser besondere Kruzifixtyp, der sich im 13. und 14. Jahrhundert vom Rheinland aus verbreitete, zeichnet sich durch ein Y-förmiges Kreuz aus, das eine Baumgabel darstellt. Die Jesusfigur ist darüber hinaus – entsprechend der lateinischen Bezeichnung – besonders schmerzensreich, mit expliziten Wunden und verdrehten Gliedmaßen präsentiert. Ein Element, das Collar an dem Breslauer Kruzifix besonders faszinierte, war die Darstellung des aus den Wunden hervortretenden Blutes als dickflüssige Tropfenansammlungen. Darin sieht sie die Essenz des Ausdrucks und der Intention des Objekts, eine Formwerdung des Grauens, der Gewalt und des Leidens, die sie wiederaufnimmt in ihren Spurts und über die Art der Installation mit weiteren Konnotationen bereichert. Hieran wird schon deutlich, dass Collars Anspruch an Skulptur und ihre Wirkungsabsicht eine ist, die auf vormoderne Zeiten rekurriert und die nicht unbedingt der Aufmerksamkeitsökonomie eines zeitgenössischen Kunstbetrieb entspricht. Sie versteht es exakt zu analysieren, mit welchen Mitteln oder Formen vor allem in der sakralen und antiken Kunst Emotionen in den Betrachter:innen ausgelöst worden sind, zerlegt diese in Einzelteile und überprüft, wie diese Mechanismen in unserer Gegenwart, mit heutigen Themen Wirkung entfalten können.
In der Bezugnahme auf christliche Kunstwerke gilt es zu differenzieren, insbesondere, um Collars Blick auch auf Münster nachvollziehen zu können. Die beschriebenen gotischen Gabelkruzifixe in ihrer expliziten Ausformulierung und intensiven Emotionalität stehen ein für die Bildsprache des Katholizismus. Es waren Darstellungen wie diese, aber auch Bücher und Malereien, die dem reformatorischen Bildersturm zum Opfer fielen. Das ist gerade in Münster durch die Geschichte der radikalreformatorischen Wiedertäufer Teil des allgemeinen Gedächtnisses. Beth Collar, die ihre Heimatstadt Cambridge sonst häufig mit Münster vergleicht, sieht darin den größten Unterschied: Sie ist aufgewachsen mit einer durch den Puritanismus geprägten, reduzierten Bilderwelt, so dass diese Kruzifixe für sie auch die Leerstelle, die Unterdrückung einer Ausdruckskraft in der ihr vertrauten Kulturgeschichte betonen.
Arbeitet Collar üblicherweise kleinformatig und in Bezug auf die menschlichen Körpermaße, so war eine Absicht für die Ausstellung im Westfälischen Kunstverein der Größe des Raumes Rechnung zu tragen. Kernstück ist denn auch eine monumentale Keramik, deren Herstellung eine beachtliche Handwerksleistung darstellt. Sie erinnert an eine Badewanne, aber auch an ein mittelalterliches Pfeilspaltfenster. Zurückzuführen ist diese Formfindung auf eine mehrmonatige Residenz der Künstlerin in Rom, wo sie sich mit den Spuren der antiken Hochkulturen der Etrusker und der Römer auseinandersetzte und die zahlreichen öffentlichen Trinkbrunnen recherchierte, deren Auffangbecken nicht selten aus recycelten Sarkophagen bestehen. Mitunter waren in diesen Trögen noch skulpturale Elemente zu sehen, die einen menschlichen Körper darstellen. Ein Behältnis, das zum Transport und zu Aufbewahrung eines Körpers diente, und das sich nun mit Wasser füllt – der Sarg und die Badewanne, beides auf die menschliche Körpergröße angepasste Volumen, sind sich formal nicht unähnlich. Auch das Schlitzfenster, das man erkennt, wenn man sich über das Objekt beugt, umfasst einen menschlichen Körper. Es versteckt ihn, damit er aus seinem Schutze heraus Pfeile auf eine angreifende Partei schießen kann. Zugleich ist die Lage des Schießenden aber höchst defensiv, befindet er sich doch in einem geschlossenen und damit auf andere Weise unsicherem Raum: Würde der Rückzugsort eingenommen, gerät der vermeintliche Schutzraum zur Falle. Das Sicherheitsgefühl wird als Illusion entlarvt, wenn man herauszoomt und den größeren Zusammenhang betrachtet. An dieser Kernarbeit der Ausstellung Bad Zeit lässt sich eine der für Beth Collars künstlerische Praxis typischen Assoziationsketten ablesen, die sich stets an Empfindungen und Affekt entzünden und weiterspringen. Auch das den gesamten Körper umschließende Bad, das Untertauchen mag nicht immer nur Wohltat sein, sondern ist durchaus verwoben mit Gefühlen von Verletzlichkeit, mit komplexen kultur- und religionshistorischen Motiven wie dem Sündenerlass oder der Taufe.
Der große Ausstellungsraum ist entsprechend all dieser Bezüge bewusst nur spärlich beleuchtet, so dass das grelle Licht des angrenzenden Kabinetts umso aggressiver wirkt. Hier greift die Wandfarbe den Ton der fünf riesigen Zeichnungen auf, die verschiedene Lebens- und Wachstumsphasen der Mistel zeigen. Die monumentale Größe der Zeichnungen, die Raumfarbe, die extreme Beleuchtung – all diese Elemente nutzt Collar hier, um eine unwirtliche Atmosphäre zu schaffen: ein forensisches Labor, eine Kapelle, in der die falschen Götter verehrt werden. Der Mistelzweig, für die meisten von uns ein harmloser Bote der besinnlichen Weihnachtszeit, ist tatsächlich ein Parasit, der auf und von anderen Pflanzen lebt und diese auszehrt, bis sie schließlich absterben, was auch zum Tod der ausbeutenden Mistel führt. Eine bösartige ökonomische Strategie, die in ihrer Konsequenz nicht zu Ende gedacht ist – für Collar ein Bild, das unserer eigenen Lebensstrategie nicht unähnlich ist, und so passt auch hier der Titel Primordial Yuppies (dt. urzeitliche Yuppies).
Beth Collar präsentiert eine weitere Serie im tageslichthellen Foyer. Dort sind fünf Keramiken zu sehen, Varianten derselben Ausgangsform: eine Leber in Rückansicht mit tränenförmiger Gallenblase. In der etruskischen Kultur kam der Eingeweideschau eine große Rolle zu. Hierfür wurden vor allem Lebern von Opfertieren wie Schafen verwendet, in denen der Haruspex las. Zeugnisse hierfür sind Ausgrabungsobjekte wie etwa die Leber von Piacenza oder verschiedene Votive, die Körperteile darstellen. Man vermutet gar, dass der Begriff „Eingeweide“ zurückzuführen ist auf „das Geweihte“ als etruskische Bezeichnung für die inneren Organe. Auch in den Lebern, die Collar nach diesen Vorbildern anfertigt, kann man wie in antiken Zeiten lesen, kann man versuchen Sinn zu entdecken. Sie benutzt die weißen Keramiken wie leere Buchseiten, überträgt Zeichnungen aus ihren Skizzenbüchern auf sie und versieht die Ausstellung dadurch mit einem narrativen Element, das sich unmittelbarer lesen lässt – ganz im Sinne des Haruspex. Neben dem Bad und Trinkbrunnen tauchen zwei weitere Motivgruppen auf: erschöpfte mittelalterliche Bauern und ein Wasservogel. Das Blesshuhn, eine verbreitete Wasservogelart mit einem schwarzen Körper, weißer Zeichnung am Kopf und roten Augen, verbirgt – ähnlich der Mistel – ein Geheimnis hinter seiner harmlosen Erscheinung. Es tötet seine Jungen entsprechend der vorgefundenen Versorgungslage. Auch hier lässt sich ein ganzes Netz an Assoziationen spinnen: Die vermeintlich fürsorgliche Vogelmutter mit der totenkopfähnlichen Zeichnung und den roten Augen tötet ihre Nachkommen im Wasserbad. Da wird die Bad Zeit definitiv zur bad time.
All diese verschiedenen Objekte und Werkserien werden zusätzlich zusammengehalten durch das kurze Video im großen Ausstellungsraum. Mit seinem Flackern beeinflusst es die Raumbeleuchtung; mit seiner Größe nimmt es Bezug auf die Keramik; mit seinem Sound begleitet es die Besucher:innen durch die Ausstellung. Im Video versammelt Collar Bildmaterial, das sie in Vorbereitung auf diese Ausstellung aufgenommen hat. Es ist eine Art visuelles Tagebuch, ein Skizzenheft, in dem wir formale wie inhaltliche Bezüge ausmachen können, die in die Entstehung der präsentierten Arbeiten geflossen sind. Allerdings ist dies mühsam und frustrierend, denn das Bild wackelt fast ununterbrochen, begleitet von einem kratzend-leiernden Geräusch. Collars Kamera an ihrem Telefon ist seit Jahren fehlerhaft; sie kann nicht mehr fokussieren, kann nicht mehr stabilisieren. Und so werden wir Zeug:innen von den kläglichen Versuchen in all den wackligen Bildern etwas Handfestes, Definitives und Belastbares zu erkennen. Wir versuchen es selbst, versuchen den Lärm und die Nebengeräusche auszublenden, suchen die eine Wahrheit, verlässliche Tatsachen und im besten Falle Sinn. Aber warum sollte uns das gerade heute einfacher gelingen als dem etruskischen Haruspex.
Kuratiert von Kristina Scepanski
Samstag, 28. Oktober 2023 um 14 Uhr
Ausstellungsrundgang mit der Künstlerin
Samstag, 28. Oktober 2023 um 18 Uhr
Ausstellungseröffnung
Mittwoch, 8. November 2023 um 18 Uhr
Führung mit Kuratorin Kristina Scepanski
Samstag, 25. November 2023
um 12 Uhr
Präsentation der Jahresgaben 2023
um 14 Uhr
RADAR: Afghanische Teezeit
mit Hafiza Qasimi
Montag, 4. Dezember 2023 um 19 Uhr
„Westfälische Küche“
Samstag, 16. Dezember 2023 um 12 Uhr
Führung mit Kuratorin Kristina Scepanski
Donnerstag, 25. Januar 2024 um 18 Uhr
Führung mit Kuratorin Kristina Scepanski
Heiligabend, 1. und 2. Weihnachtstag sowie an Silvester und Neujahr bleibt der Westfälische Kunstverein geschlossen.
Die Ausstellung wird gefördert durch Kunststiftung NRW und die Henry Moore Foundation.