15. Juli – 8. Oktober 2023
Eröffnung: Samstag, 15. Juli 2023 ab 18 Uhr
Die Ausstellungsräume sind an diesem Tag bereits ab 11 Uhr geöffnet.
Führung durch die Ausstellung: Samstag, 15. Juli 2023 um 14 Uhr mit der Künstlerin Leda Bourgogne und der Kuratorin Kristina Scepanski.
Ausstellungsort | Westfälischer Kunstverein, Rothenburg 30, 48143 Münster |
Eintritt | 4 € / ermäßigt 2 € / Mitglieder frei |
Die schweizerische Künstlerin Leda Bourgogne (*1989 in Wien, lebt und arbeitet in Berlin) kombiniert in ihrer Ausstellung im Westfälischen Kunstverein neu entstandene Werke mit älteren und lässt diese über eine raumstrukturierende Intervention in einen Dialog miteinander treten. Bereits im Foyer und nach außen in den öffentlichen Stadtraum sichtbar eröffnet Bourgogne mit einem der vielen scheinbaren Gegensätze, die sich durch ihre Ausstellung ziehen und die sie anfeuert, bis sie sich schließlich auflösen. Neun großformatige Stoffbanner, teils figürlich bemalt, teils beschriftet und mit grafischen Symbolen und Ornamenten geschmückt, erinnern an Prozessionen, Kundgebungen, Meinungsäußerungen verschiedenster religiöser oder politischer Gruppierungen. Bourgogne nimmt darin Bezug auf die Banner der englischen Suffragetten, die sich zu Beginn des 20. Jh. für die Einführung des Frauenwahlrechts einsetzten. Die Suffragetten nähten und bestickten aber nicht nur schöne Banner, sondern trafen sich seit 1909 regelmäßig im Suffragettes Self-Defense Club in London Kensington, wo sie Unterricht erhielten in Malerei, Bildhauerei und Gesang und wo jeden Dienstag und Donnerstag Selbstverteidigungskurse in Jiu-Jitsu stattfanden. Dieser Zusammenhang von körperlichem Training und politischer Bewusstseinsbildung hat die Künstlerin und Boxsportlerin Leda Bourgogne interessiert, da eben jene reziproke Beeinflussung von Körper und Geist sich wie ein roter Faden durch ihre eigene künstlerische Praxis zieht. Und so stellt sie den Bannern neun schwarze Wandobjekte zur Seite, deren Grundlage Schlagpolster aus dem Boxsport bilden, und für eine mögliche Lesart des Ausstellungstitel einstehen: Mêlée bezeichnet ein Handgemenge, ein Gerangel mehrerer Körper, ein Nahkampf ohne projektile Waffen.
Vom tageslichthellen Foyer betritt man den dunkelblau gefassten Ausstellungsraum, den deckenhohe Divider, mit feinem Chiffonstoff bespannte Holzrahmen, unterteilen in drei Segmente ganz unterschiedlicher Atmosphären. Das Entrée wird dominiert von großflächigen Holztafeln. Lackiert oder in eine geschwungene Form gebracht und mit Samt bezogen, erinnern sie an die selbstbewussten Gesten der Farbfeldmalerei, an industrielle Gebrauchsobjekte und den öffentlichen, regulierten Raum, der menschliche Körper bändigt und in Schach hält, wie der Titel Rally (18) (dt. Kundgebung, Demonstration) andeutet. Aufgegriffen wird der Bezug zur menschlichen Körpergröße und -form mit Punch Drunk (16), einem normierten Aluminiumrohr, wie es als Haltestange etwa in öffentlichen Verkehrsmitteln zur Anwendung kommt, und dem Harzabguss eines Boxhandschuhs.
Die Divider schreiben den Betrachter:innen eine Wegführung und ihrem Erfahren der Ausstellung eine Dramaturgie vor. Sie leiten vom Stadtraum, vom öffentlichen Raum sukzessive ins Private, Heimische (oder Heimliche), vom Aggressiven und Kämpferischen hin zum Zärtlichen und Fragilen. Die Divider sind transluzent, ihre Konstruktion erinnern nicht nur an Leinwände und Bilder, sondern sie werden von Bourgogne auch als solche behandelt. Leinwandstoffe sind ähnlich der menschlichen Haut die durchlässige Membran, der unmittelbare Kontakt zur Umwelt, der erste Filter und die erste Aufnahme von Einflüssen. In diesem Sinne versteht Leda Bourgogne die Leinwand und das Bild als Körper und experimentiert immer wieder mit der Durchlässigkeit der Leinwand, mit der Definition von Vorder- und Rückseite, Volumen vs. Fläche. Dabei bedient sie sich verschiedenster Materialien, die auch hier wieder Gegensätze aufmachen: warme, weiche Stoffe wie Chiffon und Samt kombiniert sie mit strengen, kalten Materialien wie Reißverschlüsse, Briefschlitze, Gürtel oder einer Schlüsselbox. Andere „Verletzungen“ der Leinwand sind weniger mechanisch, sondern folgen organischen Formen und wurden „behoben“, indem sie zusammengenäht oder geflickt worden sind.
Im zentralen „Raum im Raum“ befinden sich ein schwarzes Ledersofa (das benutzt werden darf), eine Art Bühne sowie ein TV Painting, das die Videoarbeit Mêlée enthält. In einem historischen Spiegelkabinett in Luzern aufgenommen, bildet es eine weitere Bedeutungsebene des Ausstellungstitel Mêlée ab: mêler ist Französisch für vermischen, durcheinanderbringen, aber auch vereinigen. Es muss sich also nicht nur auf das Gerangel kämpfender Körper beziehen, sondern meint ganz generell den Status des Chaos’ vieler vermischter Körper, das einen nicht mehr erkennen lässt, wo die einzelnen Körpergrenzen verlaufen. Verweisen die Schlagpolster und Boxhandschuhe im Foyer auf den antagonistischen, kämpferischen Aspekt von Mêlée, so sehen wir hier in der zärtlichen Verschlungenheit zweier Frauen das hingebungsvolle Moment. In beiden Fällen kann aus dem Chaos und aus dem Gegensatz eine neue Ordnung hervorgehen. Die Musik, die Bourgogne selbst eingespielt hat, und die Spiegel im Video spannen den Bogen zum Podest, das mit seinem verspiegelten Boden einer Skulpturengruppe eine Bühne bietet. Aus Gegenständen, die ihrem Zusammenhang entrissen und mitunter obsolet geworden sind, hat Leda Bourgogne hier Charaktere geschaffen, die figürliche und durchaus humorvolle Züge tragen. Schwarz lackierte CD-Ständer der 1990er Jahre sind verbogen und zerstört – oder vielleicht befreit aus ihrem Korsett – und bilden ein formales Echo zum angedeuteten Rückgrat in Butterfly Effect (20). Drei Mikrofonständer vereinen mit schlanken Boxhandschuhen, Nylonstrumpfhosen und Stoffen einmal mehr die scheinbaren Gegensätze und verweisen auf die Gedichte Bourgognes, die auf dem rückseitigen Divider aufgebracht sind.
Neben der Musik und der Poesie sind Filme, Pop- und Subkulturen sowie queere Geschichte Quellen der Inspiration für Leda Bourgogne. Ein neues Lesen, Durcheinanderbringen, mêler, Zurechtrücken und in neuer Ordnung Präsentieren würde wohl den Umgang Bourgognes mit diesen Materialien und Geschichten beschreiben. Und so begegnen wir im abschließenden Kabinett, in einem intimen Setting der französischen Schauspielerin Maria Schneider (1952-2011), mit deren Geschichte sich die Künstlerin mittels figürlicher Malerei auseinandergesetzt hat. Schneider wurde 19-jährig sozusagen über Nacht berühmt für ihre Rolle in Der letzte Tango in Paris neben Marlon Brando (1972, Regie: Bernardo Bertolucci). Schneider beschrieb diese Erfahrung, insbesondere den Dreh einer Vergewaltigungsszene, in der Rückschau als ausbeuterisch und problematisch und litt für viele Jahre an den Folgen. Leda Bourgogne beschäftigte sich mit der durchaus ambivalenten Person Maria Schneider und ihrer persönlichen Entwicklung, ihrem späten Coming-out.
Bourgogne greift den Film Eine Frau wie Eva (1979, Regie: Nouchka van Brakel) auf, in dem Schneider die Geliebte einer verheirateten Frau spielt. Die Darstellung und das Ende dieser Dreiecksbeziehung setzten zur damaligen Zeit Maßstäbe in der Anerkennung queerer Lebens- und Liebesentscheidungen fernab einer zeittypischen Moralisierung.
Leda Bourgognes Ausstellung Mêlée dreht sich um das Konzept der Selbstverteidigung. Dabei versteht sie den Begriff nicht nur als körperliche Wehrhaftigkeit, sondern auch im Sinne einer Verteidigung des Selbst, der eigenen Identität und Ganzheit. Zugleich geht es ihr um die Schnittstellen zwischen Körper und Geist; darum, zu zeigen wie nah Gedanken und Gefühle beieinander liegen, und dass Wohlgefühl, Schmerz, Verlangen, Sehnsüchte immer sowohl psychische als auch physische Komponenten haben und sich gegenseitig beeinflussen.
Darin stützt sie sich auf die Texte der französischen Philosophin Elsa Dorlin, die in ihrem preisgekrönten Band Selbstverteidigung. Eine Philosophie der Gewalt (2017) schreibt:
„Die Selbstverteidigung wird aufgrund einer Fülle von praktischen und wirkungsvollen Kampftechniken, vor allem aber aufgrund ihrer Fähigkeit, neue Praktiken des Selbst zu schaffen, die gleichermaßen politische physische und innere Transformationen sind, tatsächlich zu einer „Gesamtkunst“. Indem man den Körper von Kleidungsstücken befreit, die die Bewegungsfreiheit einschränken, indem man Bewegungen entfaltet, indem man ablenkt, indem man vertraute Gegenstände (Regenschirm, Nadel, Brosche, Mantel, Absätze) zweckentfremdet, indem man Muskeln aufleben lässt, indem man einen Körper ausbildet, der die Straße beherrscht, in Besitz nimmt, sich bewegt, sich im Gleichgewicht befindet, stellt die feministische Selbstverteidigung eine andere Beziehung zur Welt her, eine andere Art zu sein.“1
Indem sie sich die Aggressivität des Boxsports, die Fähigkeit zur körperlichen Selbstverteidigung künstlerisch und physisch aneignet, ermächtigt sich Bourgogne gleichsam dazu, auch ihre eigene Fragilität, ihre Zartheit und Empfindsamkeit sowie ihre Sehnsüchte als etwas Schützenswertes zu verstehen und zu verteidigen. Und ganz nebenbei löst sie damit den vermeintlichen Widerspruch der beiden Welten auf und ermutigt uns, es ihr gleich zu tun und einen Zugang zu unseren kämpferischen Körpern zu finden.
Kuratiert von Kristina Scepanski
Samstag, 26. August 2023 um 18 Uhr
(Die Führung am 17. August muss leider krankheitsbedingt entfallen!)
Donnerstag, 28. September 2023 um 18 Uhr
USA 1999, 72 min., Dokumentarfilm, Englische Originalversion
Montag, 18. September 2023 um 20 Uhr
im Schloßtheater, Melchersstraße 81, 48149 Münster
Tickets: hier
Freitag, 6. Oktober 2023, 15-18 Uhr
und
Samstag, 7. Oktober 2023, 11-14 Uhr
Anmeldung unter: info@westfaelischer-kunstverein.de
Weitere Infos: hier
Die Ausstellung wird gefördert durch das Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes NRW.