Mit „Mountains for Münster“ zeigt Daniil Shumikhin in der 22. Ausgabe der Reihe RADAR eine Werkgruppe, die in und mit direktem Bezug zu Münster entstand. Mitten im Sommer konfrontiert der Künstler mit Bergmassiven, die kaum an die Stadt erinnern, die gerade mal 60 Meter über dem Meeresspiegel liegt. Anstelle von Höhenzügen macht Münster aufgrund der flachen Geografie vielmehr durch das Radfahren von sich Reden, als durch Erhebungen.
Bisher kreisten die Arbeiten des Künstlers vor allem um den Bruch mit der Sowjetära, die Vollendung der ‘großen Utopie‘, deren Folgen und den damit einhergehenden Erfahrungen für die Ukraine. Während in seiner Heimatstadt Kherson und später in seiner Wahlheimat Kyiv die Ästhetik in den Gebäuden der späten Sowjetmoderne der Ausgangpunkt für seine künstlerischen Überlegungen war und er in seinen Modellen aus Pappe vor allem Rekonstruktion und Vergangenheit auf demokratische Ideen und technischen Fortschritt hat prallen lassen, reagiert er im RADAR auf die Impulse seiner neuen Umgebung. Zudem wechselte er in seiner Praxis von Plastik und Fotografie zu überwiegend groß- und kleinformatigen Zeichnungen auf Papier.
Zieht man, wie Shumikhin 2022, neu in die Stadt, so stößt man früher oder später doch auf Erhöhungen. Die münsterländischen zeigen sich jedoch weniger als Höhenzüge, denn vielmehr erscheinen sie bei genauerer Betrachtung als Hügel, als Aufschüttungen. Erst der Perspektivwechsel gen Boden ist es, der ihnen die Monumentalität verlieht. Mit Blick auf das „Beweisfoto“ im Eingangsbereich der Ausstellung, bricht das scheinbare Idyll um Shumikhins Bergmassive so schnell – sie unterlaufen sozusagen einen geografischen Realitätscheck: Es wird deutlich, die schwarz-weißen Zeichnungen haben ihren Ausgang in den Müll- und Schuttbrachen der Industriegebiete am Rand der Stadt. Shumikhin widmete sich im spezifischen der Umgebung des Münsteraner Hafens. Hier wurden für die Realisierung neuer Bauprojekte, in den letzten Jahren alte Industrie- und Lagerhallen abgebrochen. Als Orte der Produktion von Konsumgütern, des Weitertransports von Baumaterialien und insbesondere als Arbeitsplatz vieler Münsteraner:innen symbolisierten sie zunächst Wachstum. Nach Schließung und Stilllegung harrten diese Orte dem Verfall, wurden später von Gruppierungen und Initiativen wie der B-Side Kultur e.V. als Stätten kultureller und kreativer Teilhabe wiederbelebt, um letztlich zurück in den Kreislauf des Kapitalismus überführt zu werden. Investor:innen, sowie die Stadt Münster selbst bauen seit einigen Jahren den Standort erneut zum Warenumschlagsort aus. Während im alten Stadthafen I noch ein reger Handel mit Sand und Kies auf dem Wasserweg stattfand, haben sich hier heute große Konzerne mit ihren Bürokomplexen angesiedelt. Das Zwischenstadium dessen, die Reste der ersten Produktions- und Warenwelle sind es letztlich, die der Künstler uns vor Augen führt. Unter Shumikhins "Bergen" verborgen liegen die Überreste der früheren Gebäude wie auch der Abfall unserer Konsumgesellschaft.
Heute hat Shumikhin ein Atelier im Speicher II mit direktem Blick auf ebenjenen Hafen. Die Plastik im Eingangsbereich des Ausstellungsraums stellt somit nicht nur eine Querverbindung zu seiner ursprünglichen künstlerischen Praxis, sondern auch zu dem Ort, an welchem die Arbeiten entstanden sind, dar. Als direkte Referenz diente dem Künstler der „Elefant", ein bauliches Artefakt des früheren Industriehafens, welches heute unter Schutz steht. In der aktiven Phase diente die Betonkonstruktion als Schüttvorrichtung durch welche LKWs mithilfe des Hafenkrans mit Sand und Kies beladen wurden. Durch den Trichter rieselten damals Materialien, die in der dargelegten Lesart, ebenfalls die Form von Hügeln annahmen. Heute wirkt sie den Münsteraner:innen wie ein vertrauter Fremdkörper, Besucher:innen wie ein Relikt vor hochmodernen Baukomplexen.
Im Konglomerat der abgebildeten Aufschüttungen kondensieren in der Ausstellung die neu gesammelten Eindrücke des Künstlers. Denn jetzt rekonstruiert Shumikhin mit seinen Objekten nicht mehr, was von der Vergangenheit übriggeblieben oder gänzlich verschwunden ist. Er geht einen Schritt weiter und zeigt mit dem Dargestellten ein idyllisches Panorama – und zugleich die bereits zersetzten Überreste unserer Konsumgesellschaft. Folglich markieren auch diese als Aufhäufung eine Geschichte des Übergangs, von Veränderung, von Umwälzung und Aufbruch.
Daniil Shumikhin (*1985 in Kherson, Ukraine) lebt in Münster und arbeitet seit Juni 2023 im Atelierhaus Speicher II. Er studierte bis 2010 an der National Academy of Fine Art, Department of Sculpure, Kyiv und arbeitet vor allem mit Plastik, Fotografie und Installation. Für die Ausstellung "Mountains for Münster" intensivierte er seine Beschäftigung mit Arbeiten auf Papier. Seit 2019 ist er Mitglied des Nationalen Künstlerverbandes der Ukraine. Seine Arbeiten wurden unter anderem in Gruppenausstellungen im AURA Kunstraum, Düsseldorf (2023), im Maison Deas Arts D´Uccle, Brüssel (2023), in der Sammlungsintervention „Transition“ im LWL-Museum für Kunst und Kultur, Münster (2022–23) sowie im M17, Kyiv (2020), der Mala Gallery, Kyiv (2020) oder der Fondaione Giorgio Amendola, Turin (2022) gezeigt.
Kuratorisches Team:
Jana Peplau und Marianne Wagner
RADAR: Zugang über den Westfälischen Kunstverein, Rothenburg 30, 48143 Münster
Eine Kooperation des LWL-Museums für Kunst und Kultur und des Westfälischen Kunstvereins.
Freitag, 11. August 2023 um 19 Uhr
Eine Kooperation des LWL-Museums für Kunst und Kultur und des Westfälischen Kunstvereins.
Seit 2015 zeigen das LWL-Museum für Kunst und Kultur und der Westfälische Kunstverein in Kooperation aktuelle Positionen jüngerer Künstlerinnen und Künstler. Der Name der Ausstellungsreihe RADAR verweist auf die Beobachtung anregender Kunstproduktionen. Die ausgestellten Werke geben Einblicke in ein aktuelles Arbeits- oder Interessensfeld, ohne die Entwicklung eines Gesamtwerks bereits ins Blickfeld zu rücken. Damit sind das Experimentieren, Scheitern und Erproben wichtige Aspekte des kooperativen Konzepts zwischen dem LWL-Museum für Kunst und Kultur und dem Westfälischen Kunstverein. Der Schaufenster-Raum RADAR vermittelt erstmals räumlich, konzeptuell und inhaltlich zwischen den beiden Institutionen. Während der Laufzeit der Ausstellungen ist RADAR über den Kunstverein begehbar. Der Ausstellungsraum wird somit nicht nur als Schaufenster genutzt, sondern kann sowohl von innen als auch von außen betrachtet werden. Der Eintritt ist frei.